Wenn Mona Lisa in ihre Melange weint

Nach über 50 Jahren immer noch kein Alterswerk der Sparks

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Wenn Mona Lisa in ihre Melange weint
Nach über 50 Jahren immer noch kein Alterswerk der Sparks
Von Eileen Heerdegen

Ohne Gerd wäre vielleicht manches anders. Ich war 16, nicht Sweet Little Sixteen, sondern politisch aufgeschreckt und suchend. Antworten gab es in der WG von Reginas großem Bruder, kulturell etwas einseitig, wäre da nicht Gerd gewesen. Der legte mir auf Fadejews »Junge Garde« noch die Jelinek drauf und spielte Musik, die klang, als sei Marc Bolan verrückt geworden. »Propaganda« – auf Front-, Back- und Innencover jeweils zwei geknebelte und (aneinander) gefesselte junge Männer in verschiedenen absurden Situationen.

Bis heute kann ich fast jedes Stück dieses frühen Albums (1974) der Sparks auswendig, und trotzdem habe ich Ron und Russell Mael erst 2015 wiedergetroffen. »FFS«: Das schrägste Brüderpaar des Pop, meisterhaft gemeinsam mit meinen Lieblingsschotten von Franz Ferdinand, und mit »So many bridges in the world to jump off of« wieder so ein Titel, der ins Hirn kommt, um zu bleiben.

Einige Longplayer (und den Preis in Cannes für »Annette« – beste Filmmusik) später tanzt Cate Blanchett in Zitronengelb als schönstes Go-Go ever zum Titeltrack-Video des mittlerweile 26. Sparks-Albums, »The Girl Is Crying in Her Latte«. Eine typische Short Story der Mael Brothers zu den großen philosophischen Fragen unserer Zeit: Warum heult das Mädchen in seine Melange? Und all die anderen? »So many people are crying in their latte / Every day is the same / Tried to figure their game / They all ordered the same / Guess the world is to blame.« Statt des eigensinnig interpretierten 70er-Glam-Rocks gibt’s volle Synthiedröhnung des fast 78jährigen Ron Mael als Depressionsbegleitung.

Auch Bruder Russell – oder sind die beiden in Wahrheit ein altes Ehepaar? – ist mittlerweile 74, hat Bolan-Locken gegen dunklen Pilzkopf getauscht und möglicherweise ein, zwei Ärzte ans Gesicht gelassen. Wär’ nicht nötig gewesen, so jung sind andere nicht mal mit 20. Den beiden Musikern gelingt das Kunststück, nach über 50 Jahren nicht langweilig geworden, immer noch Avant­garde und trotzdem unverkennbar Sparks geblieben zu sein.

Vielleicht muss Russel die immer noch top getroffenen Höhen mittlerweile etwas tiefer ansetzen, trotzdem klingt »Nothing Is As Good As They Say It Is« so frisch vertraut, als hätte es schockgefroren mehrere Jahrzehnte auf seine Bestimmung gewartet. Nachdem die Herren seinerzeit mit dem Song »Never Turn Your Back on Mother Earth« noch um Respekt für die Welt gebeten haben, ist nun klar, dass das Kind längst in den Brunnen gefallen ist. Oder in eine Welt voller »Hässlichkeit, Angst und falscher Bräune«, wo nichts so gut ist, wie versprochen: »Nothing is as good as they say it is / I wish I’d known beforehand / All your standards must be so very low / This is not a place that I’d want to go.« Der 22 Stunden junge Erdenbewohner dankt den Eltern höflich, aber möchte zurück: »How can you exist in a place like this?«

Vielleicht der sparksigste Song des Albums, dicht gefolgt vom bösen »Not That Well-Defined«. In einer streng definierten Welt anders zu sein, verschwommen, als sei man von Manet gemalt, eine fehlerhafte Skizze, ein Foto im Suff – da bleibt nur die Ratlosigkeit, und selbst die stets lächelnde Gioconda hat im fünften Song des neuen Albums längst die Faxen dicke, »The Mona Lisa’s Packing, Leaving Late at Night«.

Da sicher noch 20 LPs folgen werden, kann man bei »The Girl Is Crying in Her Latte« kaum von einem Alterswerk sprechen. Inhaltlich schon gar nicht. Gewohnt ideenreiche, bissige, schräge Texte werden neben einem durchaus wiedererkennbaren Sound auch mit ungewohnten bis ungewöhnlichen musikalischen Einfällen komplettiert. »Escalator« – minimalistisch und geradezu bildhaft bewegen sich die Protagonisten unaufhaltsam gegenläufig, während »We Go Dancing« wie ein harter, bedrohlicher Kurt Weill auf Speed daherkommt. Es tanzen die Soldaten, in diesem Fall zu Kim Jong Uns Freude, doch diese Art des martialischen Balletts erfreut sich bekanntermaßen wachsenden Zuspruchs.

Da kann man nur hoffen, dass es noch nicht Zeit für uns alle ist, uns mit einem bitteren »Gee, that was fun« zu verabschieden.