Gedichte im Gepäck

Der Wiener Dichter Ibrahim Rahimi ist 1995 in Kabul geboren. Seine Lyrik schreibt der angehende Kindergartenpädagoge mittlerweile auf deutsch: „Man transportiert immer auch die Kultur der Sprache, in der man schreibt.“

„Augustin“, Wiener Stadtmagazin, Nr. 574, ET 10.5.2023

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Gedichte im Gepäck

Der Wiener Dichter Ibrahim Rahimi ist 1995 in Kabul geboren. Seine Lyrik schreibt der angehende Kindergartenpädagoge mittlerweile auf deutsch: „Man transportiert immer auch die Kultur der Sprache, in der man schreibt.“

Text: Eileen Heerdegen

„Ich versuchte, ihn zu finden am Kreuz der Christen, aber er war nicht dort. Ich ging zu den Tempeln der Hindus und zu den alten Pagoden, aber ich konnte nirgendwo eine Spur von ihm finden. Ich suchte ihn in den Bergen und Tälern, aber weder in der Höhe noch in der Tiefe sah ich mich imstande, ihn zu finden. Ich ging zur Kaaba in Mekka, aber dort war er auch nicht. Ich befragte die Gelehrten und Philosophen, aber er war jenseits ihres Verstehens. Ich prüfte mein Herz, und dort verweilte er, als ich ihn sah. Er ist nirgends sonst zu finden.“

Wohin gehen wir im Leben? Der große Mystiker Dschalal ad-Din Muhammad Rumi, einer der bedeutendsten persischsprachigen Dichter des Mittelalters (1207-1273), spricht nur vordergründig von einem Gott im westlich-religiösen Sinn. Die persische Sprache kennt weder Artikel noch Geschlecht, „Er“ kann „Sie“, kann „Es“ sein, eine Heimat, ein Zuhause, ein Ich.

Für unfassbare 103 Millionen Menschen aber ist die Suche, der Weg, sehr konkret und profan. Flüchtende – vertrieben durch Krieg, Hunger oder persönliche Bedrohung. Der junge Mann, der mir gegenübersitzt, 1995 in Kabul, Afghanistan, geboren, floh als Dreijähriger vor den Taliban mit der Familie in den Iran und ist von dort mit 20 Jahren zum zweiten Mal in eine ungewisse Zukunft aufgebrochen.

„Schutzhaus zur Zukunft“ – der Symbolcharakter unseres zufällig gewählten Treffpunkts fällt mir erst später auf. „In meinem Leben gibt es viele Zufälle“, sagt er lächelnd, als ich erzähle, dass ich auf seine Gedichte nur aufmerksam geworden bin, weil er eines in einer falschen Facebook-Gruppe gepostet hatte.

Mohammad Ibrahim Rahimi, ein so anspielungsreicher Name für einen von der Mystik begleiteten orientalischen Dichter, dass ich tatsächlich überlegt habe, ob es ein Künstlername sein könnte. Er lacht, die Idee gefällt ihm, aber der Mohammad, der „Gesandte Gottes“, ist ihm zu religiös. Er ist lieber Ibrahim, der auch als christlich-jüdischer Abraham völkerverbindender Vater sein kann. Al-Rahim schließlich, „der Erbarmer“, und das persische Verb „rahimi“ (gnädig), bedeuten ihm tatsächlich etwas, sind Teil seiner Lebensphilosophie. Eine bessere Welt, nicht nur für sich selbst, solidarisch sein – er lebt vegan und erzählt, wie sehr es ihn entsetzt hat, als er las, dass Schokolade nur 10 Cent teurer sein müsste, um die Kinderarbeit im Kakaoanbau zu beenden.

„Alle auf’n Lkw und ab nach Hause!“ – Meine Sitznachbarn in der Bahn würden am liebsten jeden Geflüchteten zurück ins Elend und den möglichen Tod schicken. Mit Rassismus wird Politik gemacht und jedes individuelle Verbrechen wird benutzt, ganze Gruppen und Nationen zu beschuldigen, zu verurteilen, zu richten, hinzurichten. 2012 gab es mehrere Massaker von US-Soldaten an unbewaffneten afghanischen Zivilisten, auch kleine Kinder wurden getötet. Ein selbst ernanntes „Kill Team“ posierte sogar für Fotos mit den Leichen. Fast zeitgleich erschien in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung ein Artikel über die Vorurteile gegenüber Schutzsuchenden aus diesem Land: „Ein Afghane war das!“, stellte eine der Frauen fest. Daraufhin entgegnete der Mann, dass alle Afghanen dieses „Blutrachedings“ mit sich tragen würden. „Auch wenn sie hier in der Zivilisation ankommen…“

Es war wahrscheinlich auch einer von Ibrahims glücklichen Zufällen, dass er nicht irgendwann in unsere „Zivilisation“ kam, sondern 10 Tage, nachdem am 3. Oktober 2015 über 100.000 Menschen in Wien „für eine menschliche Asylpolitik“ demonstriert hatten. Das Foto des kleinen Syrers Alan Kurdi, tot am Strand nach dem Versuch, Flüchtlingslagern und unmenschlichen Zuständen zu entkommen, hatte Viele bewegt. Das, was Populisten aller Länder im Nachhinein als „Flüchtlingskrise“ bezeichnen, war eine kurzfristige, schöne Renaissance des „Summers of 69“, von Love, Peace and Understanding.

„Ich bin geboren im Nirgendwo / Ich bin ein Suchender aus Nirgendland /Ich dachte, redete, wünschte niemals / Mein Name ist Niemand Niemand / Ich bin ein Dilemma aus einem Streit / Ich bin ein Dasein ohne die Erlaubnis zu sein.“ („Gesandter“, Gedichtband „König“)

Ibrahim Rahimi kam aus dem Iran, in dem Hunderttausend seiner geflüchteten Landsleute geduldet sind und Zugang zur Grundversorgung haben, aber zu den am wenigsten geachteten Menschen mit schwierigsten Lebensbedingungen gehören. Neben harter Arbeit durfte er das Gymnasium besuchen und maturieren, aber die politischen Verhältnisse jagten den jungen Dichter davon.

„In der Ferne, zwischen den Grenzen, ließen wir alles zurück, / Was unsere Schmerzen tröstet / In unseren kleinen Zimmern, da gibt es einen Bilderrahmen, / Der mit bloßem Auge unsichtbar ist / Bilder von zuhause und der Familie tanzen am Plafond“.
Mit seinem Gedicht „Unvaterland“, das im Persischen auch „Unmutterland“ heißen könnte, gewann Ibrahim 2016 den „Enjoy Austria Award“ – damals noch mit der Übersetzung des Originals in seiner Heimatsprache „Farsi“. Heute schreibt Rahimi seine Texte auf deutsch und erklärt, „man transportiert immer auch die Kultur der Sprache, in der man schreibt“. Er möchte in Österreich verstanden werden, nicht fremd sein. Dennoch sprechen seine Gedichte eine orientalisch-blumige Sprache, und ungewöhnliche Sätze wie, „Bäume sah ich, trocken aus Trauer um ihre Mütter / Regenbögen fallend, gestorben hinter jedem Fenster und Glas“, machen sie einzigartig.

Auf Ibrahims Website (www.verbannter.at) sind seine oft bildgewaltigen Arbeiten nachzulesen. Im letzten Jahr erschien sein erstes Buch, „König“, ein schmaler Gedichtband, der die orientalische Herkunft seines Autors, Mystik und die Verehrung für den Dichter Rumi nicht verleugnen kann und will. Eine eigene Welt, die nicht immer leicht zu verstehen ist, aber durch den ungewohnten Blickwinkel fasziniert. Wer ist der König – eine Dornenkrone als deutliches Symbol? Nein, nur ein Anstoß für eigene Gedanken, die rote Stadt hingegen konkret eine blutige Welt. Die liebevolle Grauhaarige könnte für das Gute stehen, der Gesandte schließlich als Teil des machtlosen Königs, ein Sprecher, und wie der Ich-Erzähler ausdrücklich kein Alter Ego des Autors.

„Natürlich gibt es Anteile, ich habe es schließlich geschrieben, aber ich habe keine zwei Persönlichkeiten im Kopf“, lacht Ibrahim und wirkt plötzlich sehr jung. Nach einigen Jahren als Buchhalter macht er nun eine Ausbildung zum Elementarpädagogen im Kindergarten. Ich kann mir vorstellen, dass die Kinder ihn lieben werden, und denke daran, dass er sagte, wegen seiner guten Sprachkenntnisse hätten die Menschen vielleicht weniger Angst vor ihm. Angst vor dem Flüchtling, „Typ junger Mann“, Angst vor dem „unzivilisierten“ Afghanen. Auf Ibrahims Website finde ich ein Gedicht zum Internationalen Frauentag:
„…Ich gebar die Männer nicht dafür / damit ich von ihnen zur Puppe gemacht werde / Damit ich zur Schau gestellt werde / Damit ich Preisschilder tragen werde…“
Solche Männer braucht das Land, ich wünsche Ibrahim sehr, dass er in gut zwei Jahren, wie geplant, tatsächlich die österreichische Staatsbürgerschaft erlangen wird.

„Bekannt als Verbannter bei vielen Heimatlosen / die in Illusionen einer Heimat betrunken ertrinken / Und denken Gedanken, die die Gefühle verwelken lassen / Sie meinen, in ihrer Heimat und Zuhause zu sein.“ („Gesandter“)

Wohin gehen wir im Leben? Hier treffen sich Orient und Okzident, der Mystiker Rumi mit der Reise ins Ich, und dazu Novalis, deutscher Dichter der Romantik, mit seiner Wahrheit: „Wo gehen wir denn hin? – Immer nach Hause“.