Vergiss die Carpenters

Drollig Wasser spucken: »Sommergäste« nach Maxim Gorki im Wiener Theater in der Josefstadt – In Frankreich brennen Barrikaden, in Deutschland tritt das gesunde Volksempfinden Demonstranten in den Bauch. Im Theater möchten die Menschen lachen.

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Vergiss die Carpenters
Drollig Wasser spucken: »Sommergäste« nach Maxim Gorki im Wiener Theater in der Josefstadt
Von Eileen Heerdegen

In Frankreich brennen Barrikaden, in Deutschland tritt das gesunde Volksempfinden Demonstranten in den Bauch. Im Theater möchten die Menschen lachen.

Das war schon im November 1904 in Petersburg bei der Premiere der »Sommergäste« von Maxim Gorki so. Doch im Verlauf des Stückes wuchs der Unmut, die bürgerliche Gesellschaft fühlte sich in der Beschreibung der sich in den Untergang langweilenden Oberschicht erkannt und ertappt. Es folgte ein Skandal, Tumulte, in denen Zuschauer zum Sturz der Regierung aufriefen, und nur wenige Wochen später, im Februar 1905, begann die lange Revolutionsphase. Letzteres eher nicht in ursächlichem Zusammenhang, beweist aber die politische Klugheit des Autors.

Knapp 120 Jahre später stehen wir nicht am Vorabend einer Revolution, wir rasen dank freier Fahrt so begeistert wie aggressiv in eine Katastrophe. Und wollen im Theater lachen. In der aktuellen Inszenierung des russischen Klassikers in Wien trägt man dem Rechnung. Nach einer regentriefenden melancholischen Eingangsszene mit dem sehnsüchtigen »Close to you« von den Carpenters folgt sogleich Klamauk. Vor allem in der Person von Claudius von Stolzmann (als Wlas), dem Hofnarren des Theaters in der Josefstadt, der zwar später in wenigen zarten Momenten beweist, dass er auch ganz anders kann, zunächst aber in etwa 3.407 Kostümwechseln innerhalb kürzester Zeit vor allem dämlich aussehen soll.

Ansonsten wird uns eine, je nach Temperament stumpf zufriedene bis todunglückliche, »bessere« Gesellschaft präsentiert, die Regisseur Elmar Goerden inklusive starker Texteingriffe ins Heute transponiert hat. Da wären eine ungewollt kinderlose, permanent unzufriedene »Nur­ehefrau« (Warwara/Alexandra Krismer), eine halbwegs gewollt mit vier Gschroppen gesegnete, aber ebenfalls unzufriedene und unbefriedigte (»vielleicht mal einen Dreier mit einer Frau?«) »Nurhausfrau« (Olga/Susa Meyer), die gern gegen alle austeilt und in deren Genörgel neben persönlichen Wünschen kein Platz für die bedrohliche Realität bleibt. Julija (Silvia Meisterle) ist vor allem mit ihrem Liebhaber beschäftigt, die Männer des prominent besetzten Ensembles bleiben farblos wie der gelegentlich über die Bühne irrlichternde Ertrunkene, der, zur Freude des Publikums, drollig Wasser spuckt.

Private Beziehungen, unerfüllte Wünsche, Träume – all das ist keineswegs uninteressant und zudem gut gespielt. Aber für gesellschaftspolitische Relevanz, gar Brisanz bleibt kaum Raum. Den Part übernehmen nur, und zudem sehr verkürzt, Martina Stilp als Ärztin Marja und die junge Katharina Klar als verlorene Tochter Sonja, jetzt Transmann Alex. Aber dieser ernst- und glaubhaft vorgetragene Konflikt, der Diskurs zu Frauenrechten, Marjas Sorge um ihr Kind und Alex’ berührender Ausbruch – »es gibt uns, es gab uns schon immer, will das denn keiner hören?« – führt beschämenderweise zu Lachern und vielen deutlichen »Nein«-Rufen aus dem Publikum. Der nächste Schenkelklopfer ist dann Alex’ Frage nach veganem Essen, und »Yoga, Klima, Hafermilch« ist endlich der gemeinsame Nenner für das, wovon sich die Zuschauer bedroht fühlen.

Da ist Hopfen und Malz verloren und deshalb wäre es vermutlich auch Perlen vor die Ignoranten gewesen, den Abend mit der schönsten Szene der Aufführung gefühlvoll ausklingen zu lassen: »What the world needs now, is love, sweet love« – Barbra Streisand singt und alle 15 Schauspieler stehen regungslos an der Bühnenrampe, nur ein paar Tränen laufen. Was für ein Finale!

Doch am Schluss steht die ewig nölende Warwara auf einem Surfbrett. »Worauf soll ich jetzt warten?« Getragen von ihren Freunden fühlt sie trotz der fröhlichen Beach Boys keine »Good Vibrations«, aber auch nicht die geringste Veranlassung, irgend etwas zu verändern.

Und bleiben wir realistisch. Love and Peace darf man sich heutzutage nicht mal mehr an den Hut stecken. Vergiss die Carpenters, »We’re on the eve of destruction«.