Alterswild

»I’m a wild one« – 1986 war das »Real Wild Child« Iggy Pop bei seinem Comeback auch schon 39 und damit Kandidat für die städtischen Freizeiteinrichtungen »für Senioren ab 40«. Mittlerweile gehört er zu denen, die man verlogen als vulnerabel, deftig als Tattergreise bezeichnet. In meiner Kindheit haben Männer seines Alters kurz ihre karierten Hütchen gelüftet, wenn sie einer Dame begegneten. Herr Pop, der eigentlich ein Mr. Osterberg ist, hat nichts zum Lüften, nicht mal ein Hemd.

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Alterswild
Iggy Pop mit wütendem Spätwerk »Every Loser«
Von Eileen Heerdegen

»I’m a wild one« – 1986 war das »Real Wild Child« Iggy Pop bei seinem Comeback auch schon 39 und damit Kandidat für die städtischen Freizeiteinrichtungen »für Senioren ab 40«. Mittlerweile gehört er zu denen, die man verlogen als vulnerabel, deftig als Tattergreise bezeichnet. In meiner Kindheit haben Männer seines Alters kurz ihre karierten Hütchen gelüftet, wenn sie einer Dame begegneten. Herr Pop, der eigentlich ein Mr. Osterberg ist, hat nichts zum Lüften, nicht mal ein Hemd.

Der nach dem Ötzi wohl berühmteste lederne Oberkörper mit all seinen Falten kann als selbstbewusster Mittelfinger gegen Jugendwahn verstanden werden; Iggy Pop ist auch mit fast 76 Jahren und aktuell 18 Soloalben keineswegs altersmild. Im Gegenteil – nach seinem 2019er Album »Free«, seinerzeit voreilig als melancholisches Abschiedswerk missverstanden, haut er schon beim Opener »Frenzy« so auf die Kacke, als säßen wir noch bei einer der Bands des Into-the-Future-Festivals in der Hamburger Markthalle im längst schon nicht mehr wahren Jahr 1979. Déjà-vu auch bei »Neo Punk«, textlich augenzwinkernd-selbstkritisches Revival eines Lebensgefühls, das von »Gucci Neo Punks« in Rolls-Royces ad absurdum geführt wird. Musikalisch auf den Punkt.

Überhaupt kann man dem Iggy musikalisch nichts vorwerfen. Auch wenn ich persönlich auf ewig die Eleganz und musikalische Weitsicht der zwei 1977er Alben »Lust for Life« und »The Idiot« – die gemeinsam mit David Bowie entstanden – vermissen werde, ist das neue Werk abwechslungsreich und handwerklich nicht zu beanstanden. Dafür sorgen schon die exzellenten Gastmusiker, wie etwa Duff McKagan von Guns N’ Roses am Bass oder der kürzlich verstorbene Foo-Fighters-Drummer Taylor Hawkins.

Auch wenn der Gesang in den Balladen schon mal an den berührenden alten Johnny Cash erinnert, ist mit »Morning Show« eigentlich nur ein wirklich trauriger Song auf der LP. Während Iggy Pop beim Album-Vorgänger »Free« den ganzen kranken Wahnsinn, den ein Mensch in über 70 Jahren (mit-)erleben muss, eher depressiv verarbeitete (nicht von ungefähr überließ der überzeugte Veganer den Titelsong der Tierrechtsorganisation PETA für ein Protestvideo gegen abscheuliche Affenversuche), hat er auf »Every Loser« nun zu seinen latent aggressiven, rauen, wütenden Anfangszeiten zurückgefunden: Wut gegen das Establishment, das am Drogenverkauf mitverdient (»Strung Out Johnny«). Der Mann, der für seinen exzessiven und selbstzerstörerischen Lebensstil, für überreichlichen Alkohol- und Drogenkonsum bekannt war (aber seit 40 Jahren clean ist), weiß, wovon er singt. Wut gegen die Zerstörung von Mensch und Umwelt. »New Atlantis« (trügerisch; fast schlagerhaft), Amerika, hier Miami, im Untergang: Dealer, Mörder, Schläger, »Me, I just see fewer birds, fish, butterflies / Plenty of concrete though« – und: »The Earth is ready to detonate«.

»Every Loser«, eigentlich »every loser needs a bit of joy«, eine Zeile aus dem Song »Comments«, ist zwar ein geistreich-selbstironisch gewählter Albumtitel, meint aber das armselige Dasein eines Internettrolls. »Hollywood-Brüste und Leben, das nach Tod riecht« in »All the Way Down«, auf Arschlöcher zielen und Idioten in die Luft sprengen, am Ende die bittere Erkenntnis: »The Gods in Heaven have gold / The rest of us just get old.«

Stimmt, aber Iggy Pop ist weder ein Loser noch alt. Allein das furiose Finale »The Regency«: »Fuck the regency«! Auch wenn das jetzt so sentimental wie abgedroschen ist … ich kann nicht anders: »May your song always be sung / And may you stay / Forever young.«