Atemlos durch den Schacht

Sind wir nicht alle ein bisschen Karin? Elias Hirschls dystopisch-satirischer Roman »Content«

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Atemlos durch den Schacht
Sind wir nicht alle ein bisschen Karin? Elias Hirschls dystopisch-satirischer Roman »Content«
Von Eileen Heerdegen

Bagger 366 wäre die perfekte Überraschung gewesen, hätte ich als fünfjährige Wunsch­listenautorin nicht dummerweise die Begriffe verwechselt. So bekam ich einen Kran und hätte damit die Liste der enttäuschendsten Weihnachtsgeschenke anführen können.

Listicles (list + article) – ein Heer von Menschen, die sich oft genug nach künstlerischem Erfolg sehnen, erstellt als journalistische Beiträge getarnte Ranglisten (die zehn miesesten Jobs für Autorinnen), die nur dazu dienen, im Internet Klicks zu generieren und Werbung zu plazieren.

Mit seinem ersten großen Erfolg »­Salonfähig« (2021) hat der Wiener ­Elias Hirschl treffsicher, bösartig und entlarvend die aus dem Ruder gelaufenen Wertvorstellungen eines jungen Mannes aus der Zeit der Slim-Fit-Regentschaft von Österreichs Kinderkanzler Kurz skizziert. Die Protagonistin des neuen Romans, »Content«, die wir an ihrem ersten Arbeitstag im Listicle-Department der ­Contentfarm »Smile Smile Inc.« kennenlernen, könnte die damalige Zeit mit den zehn jüngsten Politikern vor Gericht oder den 2.000 abstoßendsten Dickpics würdigen, ganz wichtig ist allerdings, wie sie von Kollegin Karin lernt, ein Zusatz, der User weiterklicken lässt, wie etwa »Nr. 7 ist komplett gestört«.

Elias Hirschl hat 2022 ein halbes Jahr als Stadtschreiber in Dortmund verbracht. Die stummen Zeugen der gigantischen Ausbeutung von Mensch und Natur im Ruhrgebiet sind in »Content« zu einer dystopischen Welt verdichtet, über der, wie das Kreuz am jüngsten Gericht, von überall sichtbar der monströse Schaufelbagger 366 mahnt. Eine Welt aus gigantischen aufgelassenen Gruben, einbrechenden Straßen, einstürzenden Altbauten.

Eine wahrhaft toxische ­Atmosphäre. Auch wenn kein Thomasmehl (eine mit Schwermetallen verseuchte phosphathaltige Schlacke) mehr als Dünger verwendet wird und der rote Rauch des Eisenschmelzprozesses längst verzogen ist, bleibt »eine Gesellschaft, die mehrere Generationen lang keine Sterne gesehen hat.« Aber dennoch danach greifen möchte Karin zumindest, die »eine Wärme in ihrer Stimme hat, die absolut nicht in die riesigen, kahlen Büroräume passt«. Die kreative Karin, die Gratispostkartensprüche mit einem Edding in Depressives umstrichelt: »Auf einer steht einfach nur: ›Lebe nicht dein Leben‹, auf einer anderen ›Alle dachten, es ist unmöglich, aber dann kam jemand, der das nicht wusste, und STARB‹«. Dennoch hofft sie immer wieder und träumt davon, erfolgreich Gags für eine US-amerikanische Late Night Show verfassen zu dürfen.

Die Ziele mögen unterschiedlich sein, aber sind wir nicht alle ein bisschen ­Karin? Karin, die »schon so ziemlich alle Schreibjobs durch hat«. Karin, die sagt, »man gewöhnt sich an alles«, »von zugekoksten Vorgesetzten angeschrien zu werden (…) Man gewöhnt sich an die ­Begriffe ›Sex-Mord, Familiendrama, Kinder-Killer und Inzest-Opa‹«. Karin, die inmitten des Kreischens von Hydraulikpressen, Hochleistungsmixern und Entsaftern (das Smile Smile Video-Department dreht hier die Zerstörung von Alltagsgegenständen für eine begeisterte Community) wie ein Fels in der Brandung ausgeklügelte, versponnene, subversive Listen erfindet und sich einredet, der Geist bleibe erhalten, auch wenn sie genau weiß, dass nach Durchlaufen weiterer Abteilungen nichts von ihrer Arbeit übrig sein wird.

Karin, die sich dann doch nicht an alles gewöhnt hat: »Sie hat fast 500 Listen geschrieben, darunter sogar einige wirklich gute. Ich frage sie mehrmals, ob sie einen Kaffee trinken gehen will, aber sie reagiert auf nichts. Sie hat gerade einen Artikel über die 24 zugekokstesten ­Nicolas-Cage-Auftritte fertiggeschrieben und abgeschickt, wissend, dass der ­Schauspieler durch einen passenderen ersetzt würde, die Droge ebenfalls, und schließlich das gesamte Thema. Sie erhebt sich von ihrem Drehstuhl, geht ruhigen Schrittes quer durch das Büro zum Video-Department, steuert eine der Hydraulikpressen an, in die Marta gerade eine Mikrowelle eingespannt hat, und steckt ihre rechte Hand im letzten Moment zwischen die Aluminiumabdeckung der Mikrowelle und den unnachgiebig herabfahrenden Edelstahlzylinder, der so widerstandslos durch sie hindurchgleitet, als wäre sie überhaupt nicht da.«

Im Vergleich zu ihrer Kollegin bleibt die namenlose Erzählerin seltsam farb- und emotionslos, ich habe sie im übrigen bis ungefähr zur Hälfte des Buches für einen Mann gehalten – eine Liebesnacht schien mir selbstverständlich ­homosexuell, mir war lediglich unklar, warum nur einer der Männer ein Kondom benutzt hat. Vielleicht ist es ihre starke Empathie für Karin (das einzige echte Gefühl, das sie zeigt, und das wie die Zuneigung zu einer mütterlichen Freundin wirkt), vielleicht ist es eine Art von berichterstattender Gleichgültigkeit, die ich aus eigenem Erleben und Erfahren eher männlich verorte. Diese Gleich­gültigkeit ist es möglicherweise auch, die ab einem gewissen Punkt dann doch leider zu Langeweile führt. Gerade auch durch den starken Kontrast zum anfänglichen Stil des Romans, der fast hyperaktiv und durchaus anstrengend ist – atemlos durch den Schacht.

Millionen Follower schauen sich Youtube- oder Tik-Tok-Videos an, in denen glücksüberflutete Influencer (in diesem Fall eher Influencerinnen) wahllos bestellten Tand des Billiganbieters Temu aus frisch gelieferten Paketen herausschälen. Seit ich das gesehen habe, ahne ich, dass wir keine Klimakatastrophe für den Weltuntergang brauchen. 62 ­Millionen Aufrufe für »Top 100 Best ­Hydraulic Press Moments – Satisfying Crushing Compilation« – durch Elias Hirschl weiß ich, dass Mephistos Feststellung, »alles, was entsteht, ist wert, dass es zugrunde geht« in jeder Hinsicht Realität ist.

»Content« ist eine sehr gut geschriebene Sammlung hervorragender Ideen, Überspitzungen und monströser Realität, alles für sich gelungen, und doch fehlt eine Klammer zu einem wirklich großen Ganzen.

Versöhnungstropfen: Das Ende ist nicht happy, aber schön und wahrhaft gelungen. »Nummer 7 wird dich zum ­Weinen bringen.«