Hier und heute und überall

Und wieder bleibt jemand zurück, der hassen gelernt hat: Leonard Bernsteins »West Side Story« an der Wiener Volksoper

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Hier und heute und überall
Und wieder bleibt jemand zurück, der hassen gelernt hat: Leonard Bernsteins »West Side Story« an der Wiener Volksoper
Von Eileen Heerdegen

»Es waren zwei Königskinder, die hatten einander so lieb, sie konnten zusammen nicht kommen, das Wasser war viel zu tief.« Doch meist sind es andere Gräben, die unüberwindbar sind oder scheinen. »Angst essen Seele auf« ist nicht nur ein gutes Filmbeispiel für unglücklich Liebende, sondern auch die Headline für Hass statt Zuneigung.

Angst vor dem oder den Fremden, Angst, etwas zu verlieren, und sei es noch so wenig. Es gibt ein schönes Foto einer Demonstration von US-Vietnam­kriegsveteranen: »We won’t fight an­other rich man’s war!« Doch genau das tun sie wieder und wieder, in den verschiedensten Ecken der Welt, und wenn Maria in der Schlussszene der »West Side Story« sagt, »jetzt kann ich töten, jetzt hasse ich«, könnte das hier und heute und überall sein.

Doch zunächst beginnt Leonard Bernsteins musikalische Adaption der berühmten Tragödie um Romeo und Julia mit viel positiver Dynamik. Die niederländische Opernregisseurin ­Lotte de Beer – seit September 2022 auch Direktorin der Wiener Volksoper – hat den Klassiker, der 1968 an diesem Ort in deutschsprachiger Erstaufführung gezeigt wurde, selbst inszeniert. Das Orchester der Volksoper, ebenfalls unter neuer Leitung von Ben Glassberg, überzeugt mit viel Spielfreude von Jazz bis Latino und ist auch in den zarten Passagen niemals süßlich. Statt der berühmten Choreographie von Jerome Robbins wurde Bryan Arias engagiert, ein Puertoricaner in New York, tatsächlich offenbar der perfekte Künstler für diesen Anlass. Zeit- und Standortwechsel des Originals aus dem Verona der Renaissance ins New York der 1950er Jahre und in das Milieu verfeindeter Jugendgangs blieben unverändert und sind auch gute 65 Jahre später (Uraufführung 1957) von genügend aktueller Brisanz. Interessant ist in diesem Zusammenhang allerdings, dass Bernstein, der das Musical schon Ende der 1940er Jahre plante, zunächst vorhatte, einen jüdisch-christlichen Konflikt darzustellen, dann die Idee aber als zu altmodisch verwarf.

So treffen also die damals so genannten Halbstarken aufeinander, junge Männer, allesamt mit Migrationshintergrund, alle mit eindeutig zuviel Testosteron. Stichwort toxische Männlichkeit. Die »Jets« sind für ihre Gegner und den rassistischen Polizeichef »Polacken«, die anderen, die »Sharks«, stammen aus Puerto Rico und werden entsprechend rassistisch abfällig »Spics« genannt. Es kommt, wie es kommen muss: Inmitten dieser Revierkämpfe, in einem recht düsteren, einfachen, aber passenden Bühnenbild von Christof Hetzer, das dankenswerterweise auf Pseudoamerikanisches verzichtet, entwickeln sich zarte Bande zwischen Jet Tony und Maria, der Schwester des Anführers der »Sharks«. Doch ausgerechnet am Tag der heimlichen Hochzeit gibt es einen folgenschweren Messerkampf – Marias Bruder Bernardo tötet Riff, und Tony rächt seinen besten Freund. Maria verzeiht ihm, sie träumen sogar von einer gemeinsamen Zukunft. Für diesen einen Moment verwandelt sich die düstere Wirklichkeit in einen perfekt-kitschigen American Dream mit beflaggtem kleinen Häuschen, einem adretten Vorgarten und glücklich-spießigen Sonntagsspaziergängern drumherum. Ein Mädchen (Hannah Lehner/Philippa Eisinger) stimmt den wohl schönsten Song des ganzen Stückes an, bei dem nur böse Menschen nicht weinen müssen: »Somewhere«. Doch während die Tanzszenen, wie etwa zu »America« mit ihrer unglaublichen, so naiv-hoffnungsvollen Energie sehr rühren und auch das Kind wunderbar zum traurigen Text von »Somewhere« passt, kann Jaye Simmons weniger bewegen. Eigentlich eine wunderbare Maria, aber gerade hier stört ihr gelegentlich übertriebenes Vibrato sehr.

Eindrucksvoller die anschließende Szene mit Myrthes Monteiro als Freundin Anita, die helfen möchte, fast vergewaltigt wird und dann aus blinder Wut als »böse Nonne der Königskinder« Mitschuld trägt, dass Tony am Schluss in den Armen seiner Liebsten stirbt. Und wieder bleibt jemand zurück, der zu hassen gelernt hat.

Dass es nicht so sein muss, nicht so sein darf, aufhören muss, zeigt ein Projekt von 60 jüdischen und arabischen Sängerinnen und Sängern der Israeli Opera, des Galilee Chamber Orchestra und anderer Institutionen, die mit einer gemeinsamen Aufnahme den Geist des Songs beschwören: »There’s a place for us / Somewhere a place for us / Peace and quiet and open air / There’s a time for us / Some day a time for us / Someday / Somewhere / We’ll find a new way of living / We’ll find a way of forgiving / Somewhere«.