Das Leben, ein Alptraum

Kafkas »Der Prozess« am Hamburger Thalia-Theater

https://www.jungewelt.de/artikel/463636.theater-das-leben-ein-alptraum.html

Das Leben, ein Alptraum
Kafkas »Der Prozess« am Hamburger Thalia-Theater
Von Eileen Heerdegen

Vom »Kleinen-Prinzen-Scheißdreck« (Josef Hader) bis zur Aufforderung, im Regen zu tanzen – Lebensweisheiten von banal bis blöd lachen uns von Facebook-Postings, T-Shirts und Jutebeuteln aus. »Träume nicht dein Leben, lebe deinen Traum« – wer denkt sich so was aus? Selbst Wunschträume müssen in der Regel teuer bezahlt werden, und wer möchte schon nach dem Aufwachen weiter stundenlang verzweifelt nach einem nicht verdreckten, nicht mitten im Raum stehenden Klo suchen oder gar als bewegungsunfähige Kakerlake weiterleben?

»Doch er wusste nicht, war er ­Zhuang Zhou, der geträumt hatte, ein Schmetterling zu sein, oder war er ein Schmetterling, der geträumt hatte, Zhuang Zhou zu sein?« Vom vorchristlichen chinesischen Gedicht über »Das Leben ein Traum« des spanischen Barockdramatikers Calderón de la Barca bis zur modernen Simulationstheorie gibt es viele philosophische und künstlerische Ansätze zur Uneindeutigkeit des Unbewussten.

In Franz Kafkas Werk herrschen Verwirrung und Verzweiflung, Düsternis und Qualen statt schmetterlingshafter Leichtigkeit. Das Leben ein Alptraum – in der aktuellen Inszenierung am Hamburger Thalia-Theater ist »Der Prozess« als Leidensweg eines Menschen durch die Irrungen und Wirrungen eines für ihn undurchschaubaren Lebens angelegt.

Es beginnt hell und bunt: Wilde psychedelische Farben und Muster, dazu Julee Cruise mit einem Gänsehaut-Popsong aus David Lynchs Mystery-Serie »Twin Peaks«, begleiten eine Geburt wie im LSD-Rausch.. Ein paar Umdrehungen, und es ist geschafft. Ein zarter, nackter Mensch (Merlin Sandmeyer als Josef K.) hat die Bühne betreten. Noch aufrecht, noch regenbogenfarbig, doch im nächsten Bild schon gebückt, auf dem Sprung ins Dunkel.

Und so bleibt es dann auch. Die schwarze Drehbühne, dezent metallisch, von düsteren Projektionen in einen undurchdringlichen Wald verwandelt oder schlicht schwarz und verschluckend, bietet Gelegenheit für manch phantastisches Lichtgemälde, stellt für eine berüchtigte Theaterschläferin wie mich aber durchaus eine Herausforderung dar.

Zum Ausgleich geht es schlafunfreundlich laut zu. Analog zu den starken Hell-Dunkel-Kontrasten fehlen Zwischentöne. Der Angeklagte Josef K. weiß nicht, warum ihm – plötzlich und unvermittelt – der Prozess gemacht werden soll. Niemand sagt es ihm, niemand scheint es zu wissen. Wer ist verantwortlich? Wann und wo soll der Prozess stattfinden? Es gibt keine Erklärung, keine Hilfe, keinen Ausweg. In der Inszenierung von Michael Thalheimer (der gemeinsam mit Dramaturgin Emilia Heinrich auch die Bühnenfassung erarbeitete) ist es nicht die bürokratische Scheinnormalität, die Josef K. zunächst verstört, später verzweifelt und endlich aufgeben lässt, hier ist der Irrsinn so plakativ wie die oft opernhafte Sprechweise. Schrilles Lachen und ständig zappelnde Arme und Beine demonstrieren, dass hier Schwärme übers Kuckucksnest geflogen sind, angesichts der Weltlage eine naheliegende Beschreibung unserer letzten Tage der Menschheit.

Und doch hätte eine differenziertere Darstellung des Stolperns durch ein unergründliches Schicksal der Inszenierung gutgetan. So werden die zwei Stunden ohne Pause nicht nur für die Schauspieler eine Herausforderung. Trotz der überragenden Leistung des gesamten Ensembles (Christiane von Poelnitz sogar mit verdienten Szenenapplaus nach einem gigantischen Monolog) mit diesem schwierigen Text schleicht sich zeitweilig gepflegte Langeweile ein.

Nach der berühmten »Türhüterparabel« – der einzige Part der Erzählung, den Kafka selbst zu Lebzeiten veröffentlicht hat, eine Parabel über das Leben und den Sinn des Daseins – beendet ein eindrucksvoller Schluss den Lebensweg von Josef K. mit getragener Musik und effektvollem Licht. Caravaggio hätte es nicht schöner malen können.