Eine österreichische Geschichte

Unruhiger Schlaf: »In den Alpen/Après les Alpes« von Elfriede Jelinek und Fiston Mwanza Mujila am Wiener Volkstheater

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Eine österreichische Geschichte
Unruhiger Schlaf: »In den Alpen/Après les Alpes« von Elfriede Jelinek und Fiston Mwanza Mujila am Wiener Volkstheater
Von Eileen Heerdegen

»Verschon’ uns, Gott, mit Strafen, / Und lass uns ruhig schlafen …« Es war nicht die sanfte Stille, die Matthias Claudius’ Abendlied begleitet, im Gegenteil, es war grell und laut, und trotzdem habe ich geschlafen. Verbotenerweise. Im Theater. Auf Arbeit, wie man so sagt. Ich gebe es unumwunden zu, denn möglicherweise habe ich dadurch die allertollsten Momente verpasst. Aber wäre ich dann eingeschlafen?

Die Ankündigung versprach ein spannendes Werk der Regisseurin Claudia Bossard, eine Kombination aus Elfriede Jelineks Anklage der nie gesühnten Fahrlässigkeiten, die am 11. November 2000 in Kaprun zum Tod von 155 Menschen in einer brennenden Standseilbahn führten, und einer dystopischen Arbeit des in der Demokratischen Republik Kongo geborenen Grazer Autors Fiston Mwanza Mujila. In seiner Sicht auf das Gebirge ist es bereits Vergangenheit (»Après les Alpes«), verscherbelt an Gott und die Welt, die Rohstoffe ausgebeutet wie die Bewohner, eine Kolonisation mit umgekehrten Vorzeichen.

»In den Alpen«, Jelineks 2002 entstandener Text, erzählt eine sehr österreichische Geschichte – für das angeblich erste Opfer des Faschismus trägt selten ein Einheimischer Schuld. In Ischgl warn’s die Schweden (oder die Engländer oder die Deutschen), in Kaprun der kleine Heizlüfter Fakir ­Hobby. Trotz eklatanter Versäumnisse und Fehlleistungen wurden alle 16 Angeklagten freigesprochen. (Es lohnt, den Wikipedia-Eintrag zur Causa zu lesen: »Brandkatastrophe der Gletscherbahn Kaprun 2«.)

Die Autorin lieferte daher ergänzend 2020 eine Verteidigungsrede für den Fakir, die zur Uraufführung am 17. Februar 2023 im Volkstheater einleitend von Anna Rieser mit Jelinek-Perücke umwerfend vorgetragen wird. Ganz präzise und gleichzeitig sehr komisch mit derben Dialektphrasen. Über die Bühne verteilt, in einer Art Wartesaal der verlorenen Seelen, verzweifeln einige Tote, eindrucksvoll hier Uwe Rohbeck, der in kurzen Hosen mit spindeldürren Altmännerbeinen (sorry) ein anrührendes altes Kind gibt, einen von 31 jugendlichen Toten.

Jelineks Abrechnung ist gewaltig und wütend, aber auch recht lang. Fiston Mwanza Mujilas Text ist vor allem anstrengend. Hier ist es nun Julia Franz Richter, die mit nicht enden wollenden Wortkaskaden brilliert. Der Autor arbeitet stark mit Wiederholungen, nach dem gefühlt dreihundertsten gedonnerten »der globale Süden« war ich dann doch wach. Nach einer ähnlichen Anzahl von schrillen »Knirpsen«, die Richter in ihrer Rolle als oberkapitalistische Alpenaufkäuferin Gartner in die Bergwerke schicken will, auch ernsthaft erschöpft, wenn sicher nicht ansatzweise so sehr wie Nick Romeo Reimann, der im Hintergrund pausenlos von einer Flugzeugtreppe auf zwei dicke Turnhallenmatten springen musste.

Kann man machen, muss man nicht. Mut und Draufgängertum hätte ich mir eher in der Sprache, vor allem aber bezüglich der Idee des Ausverkaufs von Natur und Lebensgrundlagen gewünscht. Der findet doch längst statt – die immer gigantischeren Skigebiete schlagen, nie mehr heilende Wunden, sogar Berggipfel sollen dafür gesprengt werden. Den Gletschern kann man beim Abschmelzen zusehen und die Schere zwischen Gewinnern und Verlierern klafft schon jetzt so weit, dass die Sklaven auch im eigenen Land zu haben sind. Die Verhältnisse sind politisch brisant, die Aufführung ist es leider nicht.

Starker Beifall für die hervorragenden Schauspieler.