Wann wird man je versteh’n?

Wiedersehen mit Marlene – Eva Mattes im St. Pauli Theater

„Wenn ich mir was wünschen dürfte…“ In einem Café an der Taborstraße in der Wiener Leopoldstadt, höre ich dieses Lied zum ersten Mal. Ein Freund singt es mir vor, ich betrachte die vorbeiziehende Welt, die fast vergessen lässt, was geschehen ist. Großgewachsene jüdische Männer tragen Hüte mit Pelzrand, kleine jüdische Jungen tragen Schläfenlocken unter schwarzen Kappen mit Silberborte. Sie lachen und hüpfen herum, stoßen sich gegenseitig freundschaftlich in die Rippen und ich werde unendlich traurig.

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Wann wird man je versteh’n
Wiedersehen mit Marlene – Eva Mattes im St. Pauli Theater

Von Eileen Heerdegen

„Wenn ich mir was wünschen dürfte…“ In einem Café an der Taborstraße in der Wiener Leopoldstadt, höre ich dieses Lied zum ersten Mal. Ein Freund singt es mir vor, ich betrachte die vorbeiziehende Welt, die fast vergessen lässt, was geschehen ist. Großgewachsene jüdische Männer tragen Hüte mit Pelzrand, kleine jüdische Jungen tragen Schläfenlocken unter schwarzen Kappen mit Silberborte. Sie lachen und hüpfen herum, stoßen sich gegenseitig freundschaftlich in die Rippen und ich werde unendlich traurig. „..käm‘ ich in Verlegenheit / Was ich mir denn wünschen sollte / Eine schlimme oder gute Zeit.“

Mein Wiedersehen mit Marlene ist weit weniger melancholisch. Eva Mattes nimmt dem Text die Schwermut, singt mit leichter Fröhlichkeit, schwungvoll und von Zeile zu Zeile mehr mit einem Trotz, der an die fesche Lola aus dem Blauen Engel erinnert. Ein guter Kontrast zu dem schwarz-weiß-Foto des Schlafzimmers der Dietrich auf der Leinwand im Bühnenhintergrund und den „Nachtgedanken“ der alten Diva aus ihrer selbstgewählten Pariser Einsamkeit, mit denen der Abend im ausverkauften St. Pauli Theater begann.

Marlene Dietrich war diese Symbiose aus scheinbar Gegensätzlichem, das Mädchen aus gutem Hause, das schon früh Geige lernte, und die Berliner Schnodderschnauze, die dem unfähigen Pianisten zeigt, wo’s langgeht – ein urkomischer Ausschnitt aus Proben zum Blauen Engel.

Eva Mattes und Irmgard Schleier (Programm und Regie) gehörten 1981 zu den Gründerinnen von Künstler für den Frieden, nach den damaligen Konzerten mit bis zu 200.000 Besuchern gestalten sie nun seit Jahrzehnten immer wieder große und kleinere Abende zu Flucht und Vertreibung, Krieg und Frieden. Auch das Programm zu Marlene Dietrich ist geprägt vom politischen Engagement der Künstlerin, von ihrer klaren Haltung gegen das Nazi-Regime und ihrer selbstlosen Hilfe für jüdische Freunde und Kollegen. Unterstützt von Siegfried Gerlich, Klavier und zwei polnischen Virtuosen – Dariusz Swinoga, Akkordeon und Wieslaw Wiesocki, Klarinette und Saxophone – finden sich neben den Dietrich-Klassikern auch jiddische Lieder im Programm. „Mir leben ejbig“, das Partisanenlied „Sog nischt kejnmol“ und schließlich nach standing ovations eines begeisterten Publikums die Zugabe „bei mir bistu shein“ (alle gemeinsam mit Petra Borel und Johanna Mohr).

Eva Mattes singt und liest mit ihrer schönen, dunklen Stimme aus den Nachtgedanken und der Autobiographie. Nicht nur optischer Kontrast, auch die Verkörperung der warmen Seite der selbstbewusst auftretenden kühlen Blonden. Die Bewunderte, die sich selbst nicht schön fand und vielleicht deshalb „falling in love again“ mit Sternberg, Jean Gabin, Burt Bacharach, am besten drei pro Tag und nur mit Hemmingway platonisch, so dringend brauchte. 

Als sie sich endgültig nicht mehr genügte, verschwand sie aus jeder Öffentlichkeit. Miss Dietrich no longer lives in Paris, schrieb sie an Eva Mattes, die sie zu einem Friedenskonzert hatte einladen wollen. Zwei lange weiße Haare unter dem Tesafilm, mit dem der Brief verschlossen war. Todtraurig.

Todtraurig auch „Sag mir, wo die Blumen sind“, Pete Seegers wunderschönes Antikriegslied beschließt den Abend, Originalaufnahmen in deutsch und englisch. „Wann wird man je versteh’n?“