Jeden Tag ein Mord

Der Tod rülpst. Vollgefressen und übersättigt, kann er die vielen Toten nicht mehr verdauen. Während der liebe Gott neben ihm im Selbstmitleid versinkt, betrachtet der Sensenmann ungerührt das nächste Täubchen, das ihm gleich in den Schlund fliegen wird. Das Täubchen heißt Beckmann und wird gleich zum Fisch werden, als Mensch hat der 25jährige längst ausgedient. Lange genug auf den Schlachtfeldern von Smolensk und Stalingrad.

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Jeden Tag ein Mord
75 Jahre »Draußen vor der Tür«: Die Hamburger Kammerspiele geben Wolfgang Borcherts Drama als Livehörspiel
Von Eileen Heerdegen

Der Tod rülpst. Vollgefressen und übersättigt, kann er die vielen Toten nicht mehr verdauen. Während der liebe Gott neben ihm im Selbstmitleid versinkt, betrachtet der Sensenmann ungerührt das nächste Täubchen, das ihm gleich in den Schlund fliegen wird. Das Täubchen heißt Beckmann und wird gleich zum Fisch werden, als Mensch hat der 25jährige längst ausgedient. Lange genug auf den Schlachtfeldern von Smolensk und Stalingrad.

»Draußen vor der Tür«, Wolfgang Borcherts autobiographisch geprägte Anklage gegen den Krieg, wurde am 21. November 1947 in den Hamburger Kammerspielen uraufgeführt und nun, auf den Tag genau 75 Jahre später, als Livehörspiel auf derselben Bühne noch einmal gewürdigt. Ein naheliegender Gedanke, denn eine Radiofassung für den damaligen Nordwestdeutschen Rundfunk im Mai 1947 hatte bereits den großen Erfolg des Dramas begründet.

Vor allem junge Männer sahen Borchert als Sprecher ihrer Generation, fanden sich wieder in der Figur des Beckmann. Vom Krieg gebrandmarkt als Krüppel, mit dem Bürstenschnitt des Lagerhäftlings, der absurden Gasmaskenbrille – ein überflüssiger Heimkehrer, zu Hause sitzt längst ein anderer. Nicht einmal die Elbe will ihn, spuckt ihn wieder aus, nimmt dafür den anderen, an dem er schuldig wird, den Riesen, dessen Anzug ihm zu groß ist, dessen Frau ihn, den Fisch vom Blankeneser Strand, aufgenommen hat. »Wir werden jeden Tag ermordet, und jeden Tag begehen wir einen Mord.«

Peter Sandmann, professioneller Geräuschemacher, und der Musiker Jens Grötzschel unterstützen die sieben Schauspieler am langen Tisch, die nur zu den Dialogen an die Rampe treten. Christian Redl als larmoyanter Gott und abstoßender Oberst, Stefan Gwildis als gelangweilter Tod mit Magenproblemen, ein begeisternder Jonas Nay als Beckmann. Eindrucksvoll auch Carlotta Freyer, Jerry Hoffmann, Riccardo Ferreira und, last not least, die einzigartige Hannelore Hoger. Ihre Elbe ist eine schnoddrige Fischmarkthändlerin, ihre Frau Kramer eine sprachlich fast ohnsorggerechte Olsch, dazu urkomisch und menschenverachtend zugleich.

Beckmann scheitert schließlich mit dem Versuch, die ihm erteilte Verantwortung für den Tod von elf Kameraden, der ihn nicht mehr schlafen lässt, an den Oberst zurückzugeben. Der schläft gut und warm und räsoniert über Pazifisten. Heute heißt es Lumpenpazifisten, und gemeint sind alle die, die wissen, dass nicht und niemals die Herrschenden den Krieg bezahlen.

Wolfgang Borchert wäre am 20. November dieses Jahres 101 geworden, starb aber an kriegsbedingten Leiden bereits mit 26 Jahren, einen Tag vor der Premiere seines Dramas. In seiner Heimat, im Hamburger Stadtteil Eppendorf, erinnert ein kleiner Gedenkstein an sein wohl berühmtestes Gedicht »Dann gibt es nur eins!«, das man heute ganz besonders in Erinnerung rufen muss:

»(…) Du, Mutter in der Normandie und Mutter in der Ukraine, du, Mutter in Frisko und London, du, am Hoangho und am Mississippi, du, Mutter in Neapel und Hamburg und Kairo und Oslo – Mütter in allen Erdteilen, Mütter in der Welt, wenn sie morgen befehlen, ihr sollt Kinder gebären, Krankenschwestern für Kriegslazarette und neue Soldaten für neue Schlachten, Mütter in der Welt, dann gibt es nur eins: Sagt NEIN! Mütter, sagt NEIN!«