Vor Gericht und auf hoher See

Trash-TV, die Zweite: Heute absurdes Juristentheater. Tätowierte Muskelpakete, Möpse, die aus Blusen quellen, beißwütige Staatsanwält*innen und Richter*innen, die über jeden Zweifel erhaben sind – so geht Gerechtigkeit!

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Vor Gericht und auf hoher See
Absurdes Juristentheater im TV soll Quoten- und Erziehungsauftrag erfüllen
Von Eileen Heerdegen

»Nachts, wenn alles schläft, solltest du bei mir sein …« Wer dieses Angebot von Howard Carpendale nicht annehmen möchte und eine andere Schlaftablette sucht, könnte zwischen zwei und sechs Uhr morgens die von Zukunftsängsten geplagten Nerven mit den ewig beliebten TV-Gerichtsserien betäuben.

Richter Engeland ist empört und macht einen ganz spitzen Mund. Der Scheidungs- und Sorgerechtsfall nimmt Fahrt auf. Gerade hat sich herausgestellt, dass der Mandant von Frau von Minckwitz seine Kinder mit Wodka abfüllt, damit er sich heimlich mit der 17jährigen Nachbarin treffen kann. Dies hat die Anwältin allerdings selbst erst im Gerichtssaal durch einen Detektiv erfahren, der die furchtbaren Zustände im Auftrag des gegnerischen Rechtsanwaltes Matthias Klagge recherchiert hat. Die mütterlich wirkende Juristin will erbost ihr Mandat niederlegen, aber auch der junge Herr Klagge hat kaum Zeit, seinen Triumph zu genießen.

Denn die als Zeugin geladene, offenherzig gekleidete 17jährige Nachbarin gibt – nach kurzer Ermahnung durch den Richter, die Wahrheit zu sagen – an, von der Ehefrau des Beschuldigten für ihre Liebesdienste bezahlt worden zu sein, weil diese sich durch ein Scheidungsurteil zu ihren Gunsten das gemeinsame Eigenheim sichern wollte, um sich dort mit Jean-Philippe, dem Zwillingsbruder der 17jährigen, eine gemeinsame Zukunft aufzubauen. Leider bin ich dann eingeschlafen und weiß nicht, ob der Richter dem Jean-Philippe, der sich geweigert hatte, seine Wollmütze abzunehmen, noch ein Ordnungsgeld aufgebrummt hat, und was eigentlich aus den alkoholsüchtigen Kleinkindern des Ehepaares geworden ist. Macht aber nichts, denn diesen Fall habe ich mir komplett ausgedacht – der Rest ist allerdings real.

Bereits 1999 startete Sat.1 unter Vorsitz des richtergewordenen weiblichen Pumuckls Barbara Salesch die ersten Verhandlungen, zunächst sogar mit authentischen zivilrechtlichen Fällen. Aber »vor Gericht und auf hoher See sind wir alle in Gottes Hand«, der Juristenspruch lehrt, dass es keine Gerechtigkeit gibt. Die aber will der Zuschauer, auf die hat er ein Recht. So entstanden ab 2000 diverse Pseudo-Dokutainment-Gerichtsserien, die mit plakativen Fällen und noch plakativeren Laiendarstellern den Zuschauerträumen von Rache und Genugtuung Rechnung tragen.

Die Einschaltquoten schossen von acht auf 30 Prozent. »Richter Alexander Hold« kam dazu, und bei der Konkurrenz von RTL wurde für »Das Jugendgericht«, »Das Strafgericht« und das eingangs zitierte »Familiengericht« eine Riege von Autoren beschäftigt, die endlich mal so richtig die Sau rauslassen durften. Kerlen im Trägerhemd mit Gewichthebermuckis und Knasttattoos plus sehr freizügig gekleideten Mädels stehen spießige Männer in billigen Anzügen oder Damen in Rüschen und Kostüm gegenüber, damit man gleich weiß, wer der Böse ist. Oder auch nicht – ha, ha, aufs Glatteis geführt, nicht immer nach dem Äußeren urteilen! Kuriose Wendungen sind die Regel, und bei der TV-Gewaltenteilung wird die Polizei nur benötigt, um randalierende Prozessbeteiligte niederzuringen. Befragungen und Recherche jedenfalls erledigen hier Richter, (Staats-)Anwälte oder plötzlich atemlos auftauchende Privatschnüffler.

Die auftretenden Juristen sind allesamt echt und begnadete Schauspieler. Seriös agierend überstehen sie jede noch so absurde Situation. RA Klagge verliert kurz die Contenance, wenn ihn ein Zeuge Schätzchen nennt, bleibt sonst aber cool, selbst wenn die Mandantin im Korsett neben ihm sitzt. Deren Ehemann will ihr das Dauertragen der Reizwäsche gerichtlich verbieten lassen, ihm sei so (klar!) kein normaler Verkehr möglich. Und das ist nicht ausgedacht, inklusive der komplizierten Aufklärung des Falls, die von Geräuschen beim Stuhlgang über Adoption bis zu einer Nierenspende geht und den Richter gerührt zurücklässt. Überhaupt ist das Gros der Richter hart, aber gerecht und verständnisvoll, während die Staatsanwälte derartig aggressiv und übergriffig agieren, dass man das nur als Warnung und Erziehungsauftrag für die Zuschauer werten kann.

Übrigens kann nachts, wer möchte, dann doch zu Howie gehen, denn auch nachmittags wird gesendet – praktisch für Rentner, Freiberufler und Arbeitslose. Apropos, »Das Arbeitsgericht« fehlt in der Riege. Das hat mit dem Wunsch nach Gerechtigkeit schließlich auch wenig zu tun.