Prämiert!

Die wunderbare Wiener Stadtzeitung Augustin hat meinen Text „Denkmal : Zweimal : Johannes“ prämiert und wird ihn in der nächsten Ausgabe (ET 24.8.2022) abdrucken. Dieser Text war mein Beitrag zu einem Schreibwettbewerb zum Thema Denkmal, initiiert von der in Stockholm lebenden und zur Zeit in Wien forschenden Kunsthistorikerin Tanja Schult. Der Text ist hier bereits zu lesen, trotzdem bitte ich darum, auf jeden Fall die Zeitung zu kaufen, der Augustin ist nicht nur ein soziales Projekt, der Inhalt ist hochinteressant und meist vonhoher Qualität.

Denkmal : Zweimal : Johannes

von Eileen Heerdegen

Ein alter Mann mit dunkelblau-weiß geringelter Pudelhaube steht vor dem Denkmal am Lugeck. Das Foto ist nicht besonders gelungen, das Licht ist schlecht und ein orangefarbener Lieferwagen der Ottakringer Brauerei stört die Szenerie. Die zwei Männer auf dem Bild heißen beide Johannes, der große oben ist Johannes Gutenberg, der kleine unten mit der Pudelhaube ist Johannes Heerdegen, mein Vater. Er war an diesem trüben Wintertag zum ersten Mal in Wien, und dass er vor dem mächtigen Monument so klein wirkt, lag nicht allein an den Dimensionen der Statue. Es war der 19. Dezember 2006, drei Tage nach seinem 80. Geburtstag. Ich hatte ihn eingeladen, eine Woche mit mir zu verbringen, in der Hoffnung, wir könnten uns nach Jahren und Jahrzehnten der Missverständnisse, der unausgesprochenen Kränkungen und Ver­letzungen, wieder näherkommen. Die Angst vor diesem Näherkommen hatte ihn schrumpfen lassen. Der eigentlich so aufgeschlossene und neugierige Mann war einen halben Tag lang fast teilnahmslos an den Sehenswürdigkeiten der Stadt vorbei­ge­schlichen, der erklärte Freund sämtlicher Arten von Kuchen war selbst beim Hofzucker­bäcker Demel mut- und appetitlos. Am Lugeck aber, vor dem großen Gutenberg, begann er, zu sich zurückzufinden und bestand auf einem gemeinsamen Foto mit seinem Vornamensvetter.

Ich sehe meinen 12-jährigen Vater auf einer Leiter in der Schnupphas’schen Buch­handlung sitzen. Ich rieche den Bücherstaub und die Schwaden aus Zigarrenrauch und dem Dunst von  Kaffee-Ersatz, die aus dem kleinen Büro des Inhabers ziehen. Ich sehe die Bücherstapel, die der junge Johannes eigentlich hatte abstauben und einsortieren sollen, und ich fühle die Begeisterung, die ihn beim Lesen gepackt hat. „Die Abenteuer des Huckleberry Finn“ – wer kann denn ein solches Buch einfach nur ins Regal stellen? 

1938 gab es in einem Arbeiterhaushalt, wie dem meiner Großeltern, kaum eigene Bücher, und sicher nicht genug für ein Kind, das den düsteren Zeiten in fremde Welten entfliehen möchte. Aber wäre der große Johannes, der Gutenberg, nicht gewesen, hätte es nicht einmal die Schnupphas’sche Buchhandlung gegeben. Na gut, bis zum Jahre 1938 hätte es sicher jemanden gegeben, der endlich den Buchdruck erfindet, aber es war nun mal um 1450 ein Johannes Gensfleisch, der auch Gutenberg genannt wurde. Seine Leistung besteht im Wesentlichen in der Erfindung der Druckerpresse und besserer Druckfarben, sowie der Verwendung einzelner Lettern, die durch ein spe­zielles Handgießverfahren feiner und leicht reproduzierbar waren. Dieser „Bleisatz“ überdauerte mehr als 500 Jahre und wurde erst in den 1980er Jahren zunächst durch elektronische Satzgeräte und kurz darauf schon durch den Gebrauch von Personal Computern revolutioniert. Doch zunächst war Gutenberg der Revolutionär. Waren im Mittelalter Handschriften als Einzelexemplare nur einer sehr kleinen Elite vorbehalten gewesen, waren neben der berühmten Gutenberg-Bibel nun eine Vielzahl von Druckerzeugnissen immer mehr Menschen zugänglich – eine Grundlage der Alphabetisierung und Bildung. 

Die Heerdegens im thüringischen Altenburg waren einfache Arbeiter, als überzeugte Sozialdemokraten waren sie sich des Privilegs bewusst, Bildung durch Bücher erfahren zu können. So habe auch ich in den 70er Jahren, als der kleine Johannes längst groß, Vater und in Hamburg war, meine aufregendsten Lese-Erlebnisse durch die quartalsweise gelieferten Bände der Büchergilde Gutenberg gehabt. Eine damals gewerkschaftseigene Organisation, die für einen Mitgliedsbeitrag günstige Lizenzausgaben lieferte. Zum Geburtstag gab es auch schon mal „Hanni und Nanni“, aber das Geld war knapp, die nächste Bücherhalle weit entfernt, und so musste ich mich (nachträglich gesehen glücklicherweise) schon mit 12, 13 Jahren durch die Erwachsenenliteratur lesen.

Doch es waren nicht nur die Bücher, die meinen Vater und Gutenberg verbanden. Der junge Johannes war ein guter Schüler und ein sehr begabter Zeichner, aber für ein Kind aus seinen Kreisen war keine höhere Schule und schon gar kein Kunststudium vorgesehen. So etwas Verrücktes hätte er sich nicht einmal vorzustellen gewagt. Alle Familienmitglieder mussten früh Geld verdienen. Die Töchter gingen „in Stellung“, wie auch schon ihre Mutter mit 14 Jahren als Dienstmädchen hatte arbeiten müssen, und Johannes wollte wie der Vater Bierbrauer werden. Da hatte man zwar immer eiskalte Hände, aber der Lehrlingslohn war überdurchschnittlich und es gab täglich vier Liter Bier als „Haustrunk“ obendrauf. Doch zum Glück gab es da den Onkel Emil, dem der kleine Johannes sehr am Herzen lag, und der sich zwecks Berufsberatung für den begabten Jungen an den weitläufig verwandten Onkel Theo wandte. Und der wiederum war ein ganz besonderer Gutenberg-Jünger: Onkel Theo war ein sogenannter Schweizerdegen, er hatte je einen Lehrabschluss als Buchdrucker und als Schriftsetzer und ebnete meinem Vater den Weg ins grafische Gewerbe.

Mein Vater bekam eine Lehrstelle als Schrift-Lithograph, überlebte den Weltkrieg als 17-jähriger Soldat und machte seine erste Schiffsreise nicht auf dem Mississippi des Mark Twain, sondern auf einer Fähre in ein englisches Kriegsgefangenencamp. Er kam anschließend nach Hamburg, wurde ein gefragter Grafiker und konnte irgendwann tatsächlich seiner Tochter sehr nahekommen. Den Anfang machte er 2006 vor dem Wiener Gutenberg-Denkmal am Lugeck.