Muttertag

Meine beste Feindin – Die erste tragische Liebe

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Muttertag
Meine beste Feindin – Die erste tragische Liebe
Von Eileen Heerdegen

Der Raum ist fast dunkel, nur weiße Metallrahmen von Betten sind zu erkennen. Es scheint ein großer Saal mit vielen Abteilen zu sein, Käfige, aber ohne Gitter, mit Glasabtrennungen. Weit hinten hohe Außenfenster, gelegentlich zucken blaue Lichter vorbei. In der anderen Ecke ihres Käfigs ahnt Becky ein Baby in einem Gitterbett, ab und zu weint es leise. Becky ist neun Jahre alt und heißt gar nicht Becky, sie würde aber gern so sein wie die beste Freundin von Tom Sawyer, und sie hätte auch gern einen Spitznamen, der auf i endet, so wie Michi, Claudi, Tini, weil das niedlich klingt. Zierlich, klein, nicht groß und dick.

»Als sie geboren wurde, war ich der glücklichste Mensch der Welt, endlich hatte ich etwas, das nur mir gehört«, sagt Peggy, die auch nicht Peggy heißt, aber zu Zeiten, als »Kevin« und »Mandy« noch nicht den Haut goût der Unterschicht verströmen, klingt Peggy interessant für ein mit Misstrauen und Ablehnung konfrontiertes »Flüchtlingsmädel« aus dem Osten. Später erzählt sie gern, sie habe zwei Semester Medizin studiert, vielleicht hat sie es irgendwann selbst geglaubt und der dicken Tochter kurzerhand Appetitzügler verabreicht.

Und nun liegt Becky dort in diesem einsamen Raum der Notaufnahme im Kinderkrankenhaus Rothenburgsort, vor dem eine Reihe bedrohlich hoher Pappeln stehen, an denen sie diesen Ort des Schreckens viele Jahre von der S-Bahn aus wiedererkennen kann. Beckys Arm tut weh, am nächsten Tag wird man das riesige Hämatom sehen und feststellen müssen, dass bei der Blutabnahme Fehler gemacht wurden. Becky hat Glück, nur eine schwere Nierenentzündung. Nebenwirkungen der Appetitzügler der 60er/70er Jahre waren Depressionen und Psychosen, Schlafstörungen, Herzrhythmusstörungen, Bluthochdruck und in schweren Fällen sogar Herzinfarkt oder Schlaganfall. Viele dieser Substanzen wurden wegen ihrer Gefährlichkeit vom Markt genommen, für Kinder waren sie ohnehin nie zugelassen.

Peggy hat es doch nur gut gemeint. Sie ist so stolz auf ihre ausgesprochen hübsche kleine Tochter, für Frauen ist Schönheit wichtig. Sie arbeitet hart, »mitverdienen« heißt das und es geschieht heimlich, um den Mann nicht bloßzustellen. Wenn das Geld trotzdem nicht reicht, behauptet sie einfach, sie habe schon gegessen und gibt alles Kind und Ehemann. Es ist ihre Aufgabe, sich ganz hinten anzustellen. »Liebe bedeutet, verzichten zu können«, oder etwas ähnlich Tragisches, wäre wahrscheinlich ihr Lieblingsmeme im Facebook gewesen.

Sechs Wochen Krankenhaus

Ein kleines Mädchen mit unerträglicher Babystimme quäkt eine Werbung des Schmuckhändlers Pandora zum Muttertag. »Meine Mami liebt schöne Dinge. Meine Mami liebt mich. Ich hab’ dich auch lieb, Mami«. Dazu gibt’s ein Armband: »Auf der einen Hälfte des Charms ist das Wort ›MUTTER‹ eingraviert, auf der anderen Hälfte ›TOCHTER‹. So können Sie jeweils eine Hälfte tragen, um sich daran zu erinnern, dass die Liebe, die Sie teilen, immer da ist, auch wenn Sie getrennt sind.«

2020 gab es in Deutschland 152 Kindstötungen. Nicht einmal eine Handvoll sind die klassischen Bild-Themen, Missbrauch, Vergewaltigung, Mord von Unbekannten, den Rest besorgen die Eltern. 30 Fälle waren Neonatizide, das sind Tötungen, bewusst oder durch unterlassene Hilfe, an neugeborenen oder bis zu einem Tag alten Babys. Infantizide erfolgen im ersten Lebensjahr. Kindstötungen zwischen dem zweiten und vierzehnten Lebensjahr werden Filizide genannt. Bei den Neonatiziden ist fast immer die Mutter die Täterin, bei Infantiziden bei etwa 80 Prozent der Fälle und bei Filiziden liegt ihr Anteil zwischen 65 und 75 Prozent.

Eine verlogene Werbewunschwelt gegen eine zugegeben extreme Realität. Dazwischen gibt es viel, vom Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom – Frauen, die ihre Kinder bewusst krank machen, um als die herzensgute Retterin dazustehen – über Drogen- und psychisch Kranke, deren Kinder vernachlässigt werden, bis zur ganz normalen, oft überforderten Frau, die nicht immer auf alles verzichten möchte, vielleicht nicht alles an ihrem Kind liebt und letztlich nie das zurückbekommt, das sie sich wünscht.

Becky muss mehr als sechs Wochen im Krankenhaus bleiben, Einzelzelle, durch ein kleines Fenster kann sie die fröhlichen Jungs bei ihren Kissenschlachten im Nebenzimmer beobachten. Einzige Abwechslung ist ein pensionierter Lehrer, der sie immer Roswitha nennt, weil er sie mit einer ehemaligen Schülerin verwechselt, und ihr den Unterschied zwischen das mit einem und zwei s so einbleut, dass sie es nie wieder falsch machen wird. Sie ist so einsam, dass es sie glücklich macht, ein Porträtfoto ihres kleinen Bruders von hinten ein wenig mit dem Finger auszubeulen, so dass es aussieht, als würde er lachen.

»All for one and all for love?« Bullshit. Die jungen Frauen, die mit ihren Hightech-Kinderwagen kleine Hunde über den Haufen fahren und Fußgänger-Achillessehnen zerschneiden, als dürften sie das, weil sie den Messias geboren haben, interessieren sich doch einen Scheiß für den oder die Heiland, der oder die verzweifelt versucht, die Aufmerksamkeit der Gottesmutter zu erlangen, die aber leider grad am Handy unabkömmlich ist: »Und dann hat er gesagt, und dann hab’ ich gesagt, und dann …« Auch Mütter können Arschlöcher sein.

Ein feines Gespür

»Das gönn’ ich der Katrin Heimann. Gelacht hat sie – ein dickes Kind könnte ihr nie passieren. Und jetzt hat ihre Tochter ein Baby von einem Schwarzen.« Eigentlich benutzte Peggy das N-Wort, dabei war sie definitiv keine Rassistin. Sie hatte nur ein feines Gespür dafür, was nicht passte, peinlich war, noch schlimmer als die pummlige Becky. Wie reagiert man, wie frau, wie kind, angesichts einer solchen triumphierend vorgetragenen Demütigung? Mit Verzweiflung, und wenn Gewalt keine Option ist, mit Autoaggression: saufen, koksen, Heroin spritzen, Nahrung verweigern, Essen hineinstopfen.

Becky stopft

Becky stopft und wird zur Strafe die gesamten Sommerferien im Allgemeinen Krankenhaus Bergedorf verbringen. Eine 15jährige mit tatsächlich nur mäßigem Übergewicht sechs Wochen auf Nulldiät (Sonntags gibt es eine Mahlzeit) in einem Sechs-Bett-Zimmer mit erwachsenen Frauen, die drei Mahlzeiten plus Kuchen erhalten, eine ist magersüchtig und wird aufgepäppelt. Klingt wie Folter, ist Folter. Jeden Tag Blutentnahme, wenn die Armvenen zerstochen sind, gern auch aus dem Handgelenk und dem Handrücken, ein Tierversuch an einer hilflosen, unmündigen Person.

»Ich werde dir zu diesem Scheiß-Nazi-Muttertag sicher keine Blumen kaufen«, auch Becky kann gemein sein. Aber sie denkt bis heute, dass sie Schuld hat und schuld ist und dass sie Peggy gern eine bessere Becky gewesen wäre.