Herzlichen Glückwunsch, du hast überlebt

»All Quiet on the Eastern Esplanade« – die Libertines sind wieder da

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Herzlichen Glückwunsch, du hast überlebt
»All Quiet on the Eastern Esplanade« – die Libertines sind wieder da
Von Eileen Heerdegen

»Congrats on staying alive – welcome to merry old England.« Habt Ihr die einst weißen Kreidefelsen gesehen? Habt Ihr bekommen, wovon Ihr geträumt habt? »Hope they don’t catch you tonight.«

Angesichts des aktuell verabschiedeten Gesetzes in Großbritannien, alle illegalen Einwanderer nach Ruanda zu deportieren, ist der bittere Song über »Merry Old England« so aktuell, wie man es niemandem wünscht.

»Congrats on staying alive« – die Libertines sind wieder da, mit dem Album »All Quiet on the Eastern Esplanade«, nach neun langen Jahren. Auferstanden aus Ruinen sozusagen. Das gilt zumindest für Frontmann Pete ­Doherty, der den meisten ganz zu Unrecht weniger durch seine Musik und mehr durch seine im wahrsten Sinne toxische Beziehung zu »Mager-Model« (ein Pleonasmus, ein Doppelmoppel ohne Moppel, nicht mal Curvy-­Models sind fett) Kate Moss und durch Drogenexzesse bekannt ist. Ein Multitalent – Musiker, Maler, Dichter, Autor mit Studium der englischen Literatur und trotzdem oder gerade deshalb verzweifelt genug, sich das Leben mit Drogen noch schwerer zu machen. Seit 2021 soll aber zumindest das Heroin von der Speisekarte verschwunden sein, das Babyface des zarten strubbelköpfigen Jungen mit den hübschen schwarzen Altländer Kirschenaugen ist mittlerweile kreisrund, mit Bärtchen und Bauch könnte er optisch bei den Gipsy Kings anheuern, es scheint ihm gutzugehen.

Carl Barât, zweite Stimme, Gitarre, Bruder im Geiste und Mitbegründer der Band, scheint großmütig alles vergeben zu haben – Doherty war in dunklen Zeiten sogar bei ihm eingebrochen, um Barâts Equipment für Drogen zu versetzen –, letztendlich rettet uns nur die Liebe. Wie bei Schwanensee, Tschaikowskis berühmtes Thema leitet »Night of the Hunter« ein, nur dass hier kein Schwan zur Prinzessin werden will, sondern ein Mensch sich zwischen »love and hate« entscheiden muss. »You can clean out your ­clothes, you’ll never clean your soul.« Ein schöner, ungewöhnlicher Song. Sanft, fast poppig mit Streicheruntermalung. Macht aber nichts und wird auch alte Fans kaum abschrecken, denn insgesamt sind Pete Dohertys Projekte, ob Solo (wie z. B. die wunderbaren »Hamburg Demonstrations«) oder mit den Babyshambles, stets von Vielfalt geprägt.

Der Opener »Run Run Run« stimmt perfekt auf das Album ein, er ist so etwas wie die eingedampfte Essenz all dessen, was die Libertines ausmacht. Textlich melancholisch selbstkritisch, »tonight we’re gonna spend all tomorrow’s happiness«, musikalisch fast ein Gute-Laune-Song gemixt aus Brit-Pop und punkigem Indie-Rock.

Gelegentlich schummeln sich The Clash nach vorn, manchmal poppen die Beatles kurz auf, gelegentlich sogar die guten alten Kinks, und ­»Baron’s Claw« klingt tatsächlich und sehr überraschend nach Element of Crime. »All Quiet on the Eastern Esplanade« macht Spaß, auch wenn längst nicht alles spaßig gemeint ist. Der Album­titel soll an Remarques Antikriegsdrama »Im Westen nichts Neues« erinnern, und so ruhig und gesetzt, wie Pete Doherty sein neues Leben mit Familie in Frankreich darstellen mag, geht es in den Köpfen der Künstler keineswegs zu. Wie schön und gerecht ist das Leben? »Is life a blockbuster film or a half rehearsed play? Do the bad need a good, like the rich need the poor?«, heißt es ausgerechnet in einem Stück, das »I Have a Friend« heißt. »And the tears fall like bombs without warning.«

Selbstverständlich ist ein Mensch mit Verstand gegen die Monarchie, und so ist »Shiver« ein intelligenter Abschied von der Queen, ein kopfschüttelnder Kommentar zum nächsten »Coronation Day«. Trotzdem nahmen Doherty und Barât, die, als Elisabeth II starb, zu Albumaufnahmen in Jamaika waren, dort an einem Gedenkgottesdienst teil. Wissen, auf welcher Seite man steht, aber auch mal über die Teetasse hinausschauen können!

Und mal ehrlich, sollte ich zwischen King Charles und Rishi Sunak wählen, würde ich mich sicher nicht für ­Boris Johnson entscheiden. Es geht kaum schlimmer, also »Stand up or shut up, rise up or give up« – »Be Young«. »­Human disgrace« – Schande, Ungnade, das ist es, was uns umgibt. »Be young, fall in love« – ein verzweifelter Anflug von Hoffnung. Weglaufen geht nicht: »There’s no wandering away from total and utter fucking annihilation.« Wir werden der totalen Vernichtung nicht entkommen.

Aber es gibt noch die »Songs They Never Play on the Radio«. Du kannst sie kostenlos streamen und deine Seele retten.