Die Welt begreifen

»Die weiße Rose« an den Hamburger Kammerspielen – Sie hätte wahrscheinlich einen Nobelpreis in Biologie gewonnen oder wäre eine der bedeutendsten Philosophinnen des Landes geworden. Sophia Magdalena Scholl war klug, modern, selbstbewusst, allerdings mit klarer Haltung gegen den Krieg. Das kommt auch heute wieder nicht gut an, damals war es tödlich.

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Die Welt begreifen
»Die weiße Rose« von Petra Wüllenweber an den Hamburger Kammerspielen
Von Eileen Heerdegen

»Man soll die Welt nicht belachen, nicht beweinen, sondern begreifen.«
Baruch de Spinoza (1632–1677)

Sie hätte wahrscheinlich einen Nobelpreis in Biologie gewonnen oder wäre eine der bedeutendsten Philosophinnen des Landes geworden. Sophia Magdalena Scholl war klug, modern, selbstbewusst, allerdings mit klarer Haltung gegen den Krieg. Das kommt auch heute wieder nicht gut an, damals war es tödlich.

Damals, vor fast genau 80 Jahren, am 22. Februar 1943, sei Sophie mit einer »kindlich festen Bereitschaft« in den Tod gegangen, erinnert sich ihre Schwester Inge, und so erklärt sich auch die erste Szene des Stücks »Die weiße Rose« an den Hamburger Kammerspielen. Die Geschwister Scholl legen Flugblätter aus, springen herum, albern, lachen vor Freude über den Blätterregen im Treppenhaus der Universität, in der Hans Medizin, seine Schwester Biologie und Philosophie studiert. Doch sie sind keineswegs naiv, sie stehen kurz vor der Enttarnung, sie begegnen mutig dem Unvermeidlichen, eine öffentliche Verhaftung soll die Kommilitonen aufrütteln.

Der Mut, die Entschlossenheit der gerade mal 21jährigen Sophie haben sie zur Hauptfigur der Weißen Rose gemacht – weil sie eine Frau ist? Aber sind es nicht auch tatsächlich Männer, die Kriege beginnen und, von Lysistrata bis heute, Frauen, die sich auflehnen?

Petra Wüllenwebers Drama sollte eigentlich »Sophie« heißen, denn ohne die Verdienste der anderen zu schmälern, ist dieses Theaterstück vor allem eine Hommage an eine unglaubliche junge Frau. Eine Frau, von der ihr Henker sagte, er habe noch nie jemanden so tapfer sterben sehen wie Sophie Scholl. Man möchte sich auf der Stelle verlieben in dieses Mädchen, es zur Tochter, Schwester, Freundin haben – ganz sicher vor allem der Verdienst von Marie Schulte-Werning, die es versteht, ganz unterschiedliche Facetten ihrer Figur erlebbar zu machen. Übermütige Schwester und Freundin, eine, die Heine und Spinoza liest und von Augustinus’ religiösen Schriften beeindruckt ist. Eine rebellische freche Pfeiferaucherin, aber auch brave Tochter mit Wandergitarre, unerbittliche BDM-Führerin bis zur mutigen Angeklagten, die alles versucht, ihre Freunde zu schützen.

Auch Ingo Meß und Alexander Klages passen sich in der Aufführung in den Hamburger Kammerspielen am 2. März bestens in ihre verschiedenen Rollen. Lennart Hillmann bekam von den anwesenden Mädels Sonderapplaus für gutes Aussehen, ist aber glücklicherweise nicht nur hübsch, sondern auch ein überzeugender Hans Scholl, und Riccardo Ferreira meistert die nicht so einfache Doppelrolle als Widerständler Christoph Probst und Gestapo-Mann. Doch auch hier fällt wieder eine Frau besonders auf: Julia Berchtold als Freundin, Studentin und Wärterin. In diesem Zusammenhang ein großes Lob an Darsteller und Ankleiderinnen – oft kann man gar nicht so schnell gucken, wie jemand rechts raus und links wieder reinkommt, und dann noch im völlig neuen Gewand.

Sophie Scholl durfte nur 21 Jahre alt werden. Der Gestapo-Beamte Robert Mohr hingegen, der die Verhöre führte, konnte bis zum 80. Lebensjahr völlig unbehelligt eine hohe Pensionszahlung genießen. Es sind nicht die Scholls, es sind die Mohrs, die immer noch prägend für unsere Gesellschaft sind. Vielleicht kann das Stück auch deshalb und auch heute noch und wieder berühren.