Auf der Despoten Trümmerhauf!

Den Damen in der Straßenbahn ist „modernes“ Theater zu laut. Die 150 Jahre alte Komödie „Der Wald“ des russischen Dramatikers Alexander Ostrowski gerät in der Wiener Josefstadt tatsächlich zu einem lauten Ereignis, allerdings sehr zum Gefallen des Publikums.

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„Auf der Despoten Trümmerhauf!“
Das Theaterstück »Der Wald« von Alexander Ostrowski in der Wiener Josefstadt
Von Eileen Heerdegen

Zwei alte Damen am Sonntag abend in der 38er Bim. Beseelt vom erlebten Opernabend, einig in der Ablehnung des »modernen« Theaters. »Da wird ja nur noch geschrien.« Ich hätte mich umdrehen und einwenden können, dass meine Mutter das ganz anders gesehen hat, für sie wurde in der Oper gekreischt. All die alten Damen wären einige Tage später (Premiere 13.10.) im Wiener Theater in der Josefstadt auf ihre Kosten gekommen. Es war zwar tatsächlich recht laut, aber vor allem aus dem Zuschauerraum – Lachen und viel Szenenapplaus.
»Der Wald«, eine Komödie des russischen Dramatikers Alexander ­Ostrowski (1823–1886) mag vom Titel an den berühmteren »Kirschgarten« erinnern; doch während die Bäume bei Tschechow emotionsbeladenes Gut sind, zur Metapher über den Verlust von Glück und Status werden, ist der Forst für Raissa Pawlowna reines Handelsobjekt und wird bei Bedarf Stück für Stück an den reichen Holzhändler verscherbelt. Einen ehemaligen Leibeigenen, der schnell von den Besitzenden gelernt hat, andere (insbesondere die alte Herrin) aufs Kreuz zu legen. Nicht mal aus Rache, er ist schlicht kein besserer Mensch oder, um im Sujet zu bleiben, aus dem gleichen Holz geschnitzt wie die adelige Gutsbesitzerin – wegen einer Mitgift von 2.000 Rubel (die sie nicht zahlen und auf die er nicht verzichten will) verhindern beide, dass sein Sohn Pjotr und Raissas Nichte Axjuscha ein Paar werden.
Recht, Gesetzlichkeit, Achtung vor dem Menschen, gegen Willkür und Despotentum – Ostrowski vertritt Werte. Er arbeitet mit Stereotypenkombinationen, Bad Cop/Good Cop, jeweils differenziert genug, sich für einen anderen, besseren Weg zu entscheiden.
Ein Spiel von Schein und Sein, das mit dem Auftritt zweier landstreichender Schauspieler weiter an Eindeutigkeit verliert. Der Tragöde und der Komödiant schleichen sich als Oberst und Diener unter falschen Vorzeichen ein, stellen das Gut auf den Kopf, deklamieren Texte von »Hamlet« bis zu Schillers »Die Räuber«, voll diebischer Freude, so aufrührerische Gedanken ungestraft verbreiten zu können. Robert Meyer und Herbert Föttinger chargieren dabei schamlos – ein echter Spaß. Und es fällt tatsächlich der Satz, dass heutzutage im Theater nur noch geschrien werde. Erinnert an die ewig beständigen Sokratesschen Aussagen über die verlotterte Jugend.
Die große Andrea Jonasson, selbst bereits 80 Jahre und von faszinierender Jugendlichkeit, zeichnet die alte Witwe facettenreich. Neben Strenge, Härte und Geiz bleibt Raum für Zartheit, für die Echtheit der heimlichen Liebe zum blutjungen Alexej – Claudius von Stolzmann harlekinesk mit Trippelschritten und Tanzeinlagen auf gelungener Gratwanderung zwischen Einfalt und Selbstüberschätzung.
Die gesamte Aufführung ist von großer Spielfreude geprägt, ein Extra-Applaus geht an die kurzfristig eingesprungene Alexandra Krismer. Einzig die später doch noch erfolgreichen Nachwuchsliebenden bleiben leider die schauspielerisch emotionsloseste Paarung des Abends. Wenn Tobias Reinthaller als tumb-muskulöser Exbauerssohn Pjotr karikaturenhaft synchron mit dem eher zarten Papa Marcello de Nardo umherstapft, ist das zwar urkomisch, der erotischen Ausstrahlung aber eher abträglich.
Der Abend beginnt mit einer stark an Sergej Eisenstein erinnernden Stummfilmsequenz. Auch später werden auf eine riesige Mondscheibe immer mal wieder an altes Filmmaterial erinnernde Schnipsel projiziert. Ungewöhnlich, aber passgenau, denn als Bühnenbildner verwendete der spätere Regisseur selbst 1923 ausgerechnet in einer Ostrowski-Aufführung diese frühe Form von Multimedia.
Am Ende siegt das Gute: Alle Liebenden finden sich, auch dank des bettelarmen Schauspielers, der selbstlos einen unverhofften Geldsegen spendet – und passend zum Eisenstein-Vorspiel endet der Abend mit der »Internationale«. Nein, Scherz, aber man hatte wohl das Gefühl, ein russisches Stück nicht unkommentiert aufführen zu können, und so beschließt ein vertonter, auf russisch gesungener Text von Alexander Puschkin die Aufführung. Ein Lied auf die Kraft der Kunst, und da es hier und heute nicht nur einen Aggressor gibt, zitiere ich eigenmächtig mit einem Plural: »… Dann werden unsre Namen läuten / Auf (des) der Despoten Trümmerhauf!«